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carolinea, 68
(2010)
Schon P
ythagoras
etwa hatte darüber gestaunt,
dass Phänomene wie die musikalischen Akkor-
de natürlichen Zahlenverhältnissen entsprachen.
Der Bau des Planetensystems (kreisförmige Be-
wegungen), die Klimazonen der Erde (zwischen
extrem kalten und extrem heißen Gebieten gibt
es lebensfreundliche Zonen) und die sinnenfäl-
lige Anpassung der Lebewesen an ihre Umwelt
erschienen den Stoikern als eindeutige Ord-
nungsmerkmale der physischen Welt.
Gibt man die beiden Prämissen zu, dann folgt
aus ihnen unausweichlich, dass es jemanden
gegeben haben muss, der die Welt angeordnet
hat. Außerdem ergibt sich beiläufig die Erkennt-
nis einiger Eigenschaften des Weltenbauers:
Er muss sehr große Macht und große Güte ge-
genüber den Geschöpfen besitzen. Der physi-
kotheologische Beweis wurde in der gesamten
europäischen Geistesgeschichte gepflegt und
kam gerade im 18. Jahrhundert zu einer neuen
Hochblüte.
2.2
Die Harmonie zwischen biblischem und
naturphilosophischemWeltbild in Antike
und Mittelalter und die kopernikanisch-
galileische Krise
Das Christentum hatte in der Antike und imMittel-
alter keine Probleme damit, die naturkundlichen
Erkenntnisse mit den in der Bibel niedergelegten
Ansichten von der Welt und den Geschöpfen zu-
sammenzudenken. Zwar war das Weltbild in den
Schöpfungsberichten der Bibel noch das altori-
entalische, bei dem die Erde als Scheibe vorge-
stellt war, die ringsum vom Urozean umflossen
ist, während die vorchristlichen griechischen Phi-
losophen schon erkannten, dass die Erde Kugel-
gestalt besaß. A
ristarch
von
S
amos
hatte sogar
schon gelehrt, dass die Sonne im Mittelpunkt
des Planetensystems stehe. Aber die Autorität
des A
ristoteles
und des P
tolemäus
sorgten da-
für, dass diese Theorie bald wieder verdrängt
wurde. Damit setzte sich in der vorchristlichen
Antike ein geozentrisches Weltbild durch, und
der Unterschied zwischen der biblischen schei-
benförmigen und der ptolemäischen kugelför-
migen Erde im Zentrum des Universums kam im
Mittelalter nicht zum Tragen. Es war nicht schwer,
den christlichen Glauben und die antiken und mit-
telalterlichen Einsichten in die Natur auch sonst
miteinander zu harmonisieren.
Dann trat K
opernikus
mit seiner Theorie der helio­
zentrischen Welt auf, und G
alilei
brachte mithil-
fe von neuer Technologie (dem Fernrohr) starke
Gründe für die Wahrheit dieses neuen Weltbildes
bei. Beide christliche Konfessionen des Abend-
landes wehrten sich anfangs gegen diese Auf-
fassung. Sie verwiesen zur Begründung ihrer Po-
sition auf das geozentrische Weltbild der Bibel.
Im Buch Josua (Kap. 10, Vers 13) etwa steht zu
lesen, dass der Feldherr Josua bei einer Schlacht
zwischen Israeliten und einem gegnerischen
Heer Gott darum gebeten habe, dass die Sonne
still stehen möge. Dann könnten die Israeliten bei
verlängertem Tageslicht den militärischen Sieg
vollenden. Josuas Gebet wurde erhört, so wird
berichtet, und es „stand die Sonne still im Tale
Gibeon“. Martin Luther und andere Theologen,
auch katholische, haben daraus den Schluss ge-
zogen: Wenn in der Bibel steht, dass die Sonne
ausnahmsweise stillgestanden habe, dann muss
sie sich normalerweise bewegen. Also kreist die
Sonne um die Erde und nicht umgekehrt.
Auf Dauer waren aber die Plausibilitäten für das
heliozentrische Weltbild so überwältigend, dass
man sich ihm nicht mehr widersetzen konnte.
Das brachte die Theologie in große Schwierig-
keiten. Sie musste jetzt damit umgehen, dass
im Bibeltext Dinge zu lesen waren, die nicht der
Wirklichkeit entsprachen. Wenn sich jedoch die
Bibel schon in recht elementaren naturwissen-
schaftlichen Dingen irrte, kann man sich dann
überhaupt noch auf sie verlassen? Die Theologie
stand vor der Aufgabe, ihren bisherigen Begrün-
dungszusammenhang zu revidieren (W
einhardt
2010
a, S. 11-16). Es ist hier nicht der Raum, die-
sen Vorgang auch nur annähernd umfassend zu
beschreiben. Allgemein gesprochen, betrachtet
die heutige Theologie die Bibel nicht mehr als
unmittelbare Quelle religiöser Aussagen – wie
dies im Mittelalter der Fall war – , sondern als
mittelbare. Das Christentum beruht auf einer be-
stimmten Interpretation historischer Ereignisse
(
in der Geschichte Israels und der Person Jesu
2
Diese Prämisse hat eine richtige Grundlage. Der zweite
Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass in einem ge-
schlossenen System die Entropie stetig zunimmt. Die En-
tropie ist ein Maß für die Ungeordnetheit eines Systems.
Allerdings kommt es darauf an, dass es sich um
geschlos-
sene
Systeme handelt, das heißt um solche, in die von au-
ßen keine Energie zufließt. Im obigen Beispiel ist der Garten
ohne Gärtner ein geschlossenes System, dessen Entropie
zunimmt, der in diesem Falle überwuchert wird. Nur durch
den von außen eingreifenden Gärtner und dessen dabei auf-
gewendete Energie kann die Ordnung des Gartens aufrecht
erhalten oder sogar vergrößert werden. Die Stoiker wussten
nicht, dass die Erde kein geschlossenes System ist, in wel-
chem die Sonnenenergie die Evolution von Ordnung ermög-
licht.