
Carolinea 71
(2013): 101-133, 24 Abb.; Karlsruhe, 16.12.2013
101
Zur Geschichte gefährdeter Nutztierrassen am
Beispiel der Kronenkammhühner (Augsburger
und Sizilianer Huhn,
Gallus gallus
f.
domestica
)
H
ans
-W
alter
M
ittmann
& P
eter
H
avelka
Kurzfassung
Das Aussterben von Haustierrassen bedeutet nicht
nur einen Verlust an „Agrobiodiversität“ oder an ge-
netischer Vielfalt, sondern auch den Verlust eines Teils
unserer Kulturgeschichte. Zeigen lässt sich das am
Beispiel der Haubenhühner, speziell an den vom Aus-
sterben bedrohten Rassen der Kronenkammhühner:
den Augsburgern, Sizilianern, Caumont und Danda-
rawi. Ihr auffälligstes Merkmal, der Kronenkamm, fin-
det sich als „Marker“ in zahlreichen kulturhistorischen
Dokumenten, sowohl in Buchillustrationen als auch
in der darstellenden Kunst. An Hand von Werken, die
bis in das 13. Jahrhundert zurückreichen, können die
Ausbreitungsgeschichte und die Verbreitungswege der
Haushuhnrassen von deren asiatischer Heimat über
Vorderasien und Nordafrika, weiter über Sizilien und/
oder Spanien nach Mitteleuropa verfolgt werden, wo
diese Rassen zum Ende des 19. Jahrhunderts in die
heute gültigen nationalen Standards gefasst wurden.
Abstract
Extinction of domestic animal races not only means a
loss of agricultural biodiversity or genetic diversity in
general but also a loss of a part of our cultural heritage.
This can be shown by the example of the hood chicken
and especially by the endangered old races of Augs-
burgers, Sicilians, Caumonts and Dandarawis. Their
most striking feature, the crown comb, can be found as
a “marker” in various cultural and historical documents,
in book illustrations as well as in paintings. On the ba-
sis of works even dating back to the 13th century the
propagation history and the distribution channels of the
domestic fowl are pursued from their Asian homeland
via Asia Minor and North Africa further on to Sicily or
Spain into Central Europe, where at the end of the 19th
Century these races were adopted in the currently valid
national standards.
Résumé
L’extinction des races d’animaux domestiques ne signi-
fie pas seulement une perte de la biodiversité agricole
ou de la diversité génétique en général, mais aussi la
perte d’une partie de notre patrimoine culturel. Ceci
s’illustre par exemple par le poulet huppé et surtout
par les races d’Augsbourg, Siciliens, Caumont et Dan-
darawis menacées de disparition. Leur caractéristique
la plus frappante, leur crête en forme de couronne, est
un signe particuliér que l’on retrouve dans divers docu-
ments historiques et culturels, dans des illustrations de
livres, ainsi que dans les peintures. A travers les œu-
vres remontant loin du 13e siècle, on peut suivre l’his-
toire des chemins de dissémination et des canaux de
distribution de la volaille domestique partant de leurs
pays d’origine asiatique en passant par l’Asie Mineure
et l’Afrique du Nord puis par la Sicile ou l’Espagne et
Europe centrale, et pour laquelle on a établi des nor-
mes nationales à la fin du 19e siècle en vigueur jusqu’à
nos jours.
Autoren
Dr.
H
ans
-W
alter
M
ittmann
, Dr.
P
eter
H
avelka
, Staatli-
ches Museum für Naturkunde Karlsruhe, Erbprinzen-
str. 13, 76133 Karlsruhe.
1 Einleitung
Erhaltung und Schutz biologischer Vielfalt und
genetischer Ressourcen sind in den letzten
Jahren zunehmend ins Bewusstsein der Öffent-
lichkeit gedrungen und zum Thema nationaler
und internationaler Politik geworden. Die Bemü-
hungen zum Schutz der Ressourcen haben zwar
zugenommen, trotzdem ist der Verlust an biolo-
gischer Vielfalt so hoch wie nie. Dies trifft auch
die Landwirtschaft. Seit dem Ende des zweiten
Weltkriegs hat sich die bäuerliche Nutztierhal-
tung durch Veränderungen in Züchtungsmetho-
dik und landwirtschaftlichen Produktionsbedin-
gungen stark verändert und zu einer enormen
Leistungssteigerung und Effizienzverbesserung
geführt. Lediglich 11 Nutztierarten – Pferde, Rin-
der, Schweine, Esel, Schafe, Ziegen, Kaninchen,
Hühner, Enten, Gänse und Tauben – bilden die
Grundlage der tierischen Produktion in Deutsch-
land und werden tierzüchterisch bearbeitet. Nur
wenige Hochleistungs-Tierrassen dominieren
diese Tierbestände. Eine Vielzahl von alten ein-
heimischen Rassen hingegen ist inzwischen
ausgestorben oder nur noch in kleinen Restbe-
ständen vorhanden.
Dies gilt auch für die Hühnerhaltung. Um 1900
waren in den Geflügelzuchtstationen Deutsch-
lands noch 40 Hühnerrassen registriert (Abb. 1;